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Medikamentenengpässe in Zeiten von Corona und Co.? „Wir sollten unsere europäischen Ressourcen mobilisieren!“

Nicht erst seit dem Ausbruch von COVID-19, kommt es in Deutschland zu Engpässen bei Medikamenten. Ob Schmerzmittel oder Blutdrucksenker – laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel gibt es aktuell bei rund 270 Präparaten Lieferschwierigkeiten. Wir haben mit dem Apotheken-Berater Jörg Negele gesprochen. Seine Einschätzung zur Medikamentenversorgung in Deutschland und den Einfluss von Corona auf Engpässe erfahren sie hier.

Schon seit geraumer Zeit wird von Problemen bei der Medikamentenbelieferung gesprochen. Wie schätzen Sie die allgemeine Arzneimittelversorgung in Deutschland ein?
Ich rate erst einmal dazu, nicht in Panik zu verfallen. Die Versorgung ist global betrachtet für den ambulanten und den Klinikbereich nach wie vor ausreichend. Es ist nicht so, dass Therapien nicht stattfinden können, weil Medikamente fehlen. Dennoch kommt es durchaus vermehrt zu Engpässen – auch in Deutschland. Der Grund dafür ist vor allem der erhöhte Aufwand bei der Beschaffung. Anders als früher steht man mit mehreren Herstellern in Kontakt, der Weg des Medikaments vom Produktionsort bis hin zum Patienten ist deutlich länger geworden.


Welche Medikamente sind besonders betroffen?
Bei Originalpräparaten sind mir keine Engpässe bekannt. Die großen Hersteller, z.B. aus dem amerikanischen Raum, haben genug Lager- und Speicherkapazitäten. Lieferschwierigkeiten beziehen sich eher auf Basismedikamente wie Schmerzmittel oder Herzkreislaufmedikamente. Ein Grund dafür ist sicherlich auch, dass hier ein höherer Bedarf besteht als bei Medikamenten für Krankheiten, die in der Relation eher seltener sind.

Und wo liegt die Ursache für die Knappheit in Ihren Augen?
Die Lieferketten sind sehr lang geworden. Der Preisdruck hat viele Hersteller aufgrund des wettbewerblichen Kostendrucks in den asiatischen Raum „getrieben“. Hier ist die Produktion deutlich billiger. Zudem ist es so, dass sich ebenfalls die Anzahl der Produzenten verknappt hat. Da diese zum Teil den globalen Markt beliefern müssen, kommt es folglich zu Arzneimittelverknappungen.

Welchen Einfluss auf die Entwicklung der Situation können Krisen wie der Brexit oder der Ausbruch des Corona-Virus haben?
Natürlich können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehen, wie sich die Lage weiterentwickeln wird. Dennoch ist damit zu rechnen, dass es zu ernsten Engpässen kommen könnte, wenn Lieferungen aus Indien und China ausbleiben, weil Importe schlichtweg nicht mehr stattfinden können. Dementsprechend ist der Einfluss von Corona nicht zu unterschätzen. Was den Brexit anbelangt: Ich sehe hier eher für England Probleme hinsichtlich der Zollabwicklung und des Importes von europäischen Medikamenten. Wie sich hier die Situation noch entwickeln wird, erfahren wir spätestens nach Ablauf der Frist zum Ende dieses Jahres.

Welche Maßnahmen könnten helfen, die Situation zu entspannen?
Eine kurzfristige Maßnahme könnte sein, unsere europäische Produktion von Medikamenten wieder auszuweiten, um Engpässen präventiv zu begegnen. Es ist ein großes Problem, dass wir trotz aller Vorteile, die mit der Globalisierung einhergehen, uns hier auch in eine gewisse Abhängigkeit begeben haben. Angesichts der gegenwärtigen Situation wäre es daher gut, die europäischen Ressourcen wieder vermehrt zu mobilisieren und auszuweiten. Ich sehe hier auch die Gesundheitsbehörden in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu diskutieren und umzusetzen. Demnach sollte auch die Politik tätig werden. Trotz allem möchte ich hier jedoch noch einmal betonen, dass die Lage für Apotheken wie Krankenhäuser zwar sehr angespannt ist, aber von einer Katastrophe lässt sich nicht sprechen. Nach wie vor sind wir in Deutschland versorgt. Wir verfügen über Vorräte. Trotzdem sollten wir jetzt reagieren, um Schlimmeres zu verhindern.

Sollten auch Krankenhäuser und Apotheken ihren Vorrat aufstocken?
Gerade bei seltenen Erkrankungen, wo die Bestände eher gering ausfallen, ist die Situation heikel. Ich spreche hier z. B. von Reserveantibiotika zur Behandlung von Infektionskrankheiten. Generell lässt sich mit Sicherheit sagen, dass öffentliche Apotheken gut beraten sind, für Patienten, die kontinuierlich bestimmte Medikamente benötigen, einen Vorrat anzulegen. Auch Krankenhäuser sollten dem folgen. Ich halte dies durchaus für eine sinnvolle Maßnahme im Rahmen einer allgemeinen Vorsorge.